Schneeweiße Weihnacht, Tag 21

Jarne stieg aus und kam mit großen Schritten auf sie zu. Sein vertrautes Lächeln zu sehen, löste etwas in Victoria und ohne darüber nachzudenken, stürzte sie in seine Arme. Auch das war etwas, das Jarne hervorragend beherrschte – sie einfach in seinen Armen zu halten, wenn das Leben mal wieder ein bisschen zu turbulent für sie war.
»Willst du mir erzählen, was für eine dumme Geschichte das ist, in die du geraten bist?«, fragte er, während er beruhigend über ihren Rücken strich.
Victoria nickte, löste sich bedauernd von ihm und berichtete dann, was sich zugetragen hatte. »Und nun traue ich mich nicht alleine zu meinem Auto zurück«, schloss sie. »Obwohl ich sicher bin, dass die Kerle inzwischen über alle Berge sind, weil sie ja damit rechnen müssen, dass ich die Polizei alarmiere.«
»Hast du die Polizei denn alarmiert?«
»Noch nicht. Ich habe mich mucksmäuschenstill im Wald versteckt, bis du kamst. Ich hatte Angst, dass mich doch noch jemand hört.«
»Dann machen wir das jetzt.«

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Schneeweiße Weihnacht, Tag 20

20.
Nahezu eine Stunde später erreichte Victoria einen Wanderparkplatz.
Noch immer im Schutz der Bäume zog sie ihr Handy aus der Jackentasche. Hoffentlich hat er Zeit, dachte sie, während sie Jarne eine Nachricht mit eben dieser Frage schickte.
»Für dich immer«, schrieb er zurück. »Was gibt’s?«
»Bin in eine dumme Geschichte geraten und brauche Hilfe. Kannst du mich abholen?« Sie sendete ihm ihren Standort.
»Bin gleich da.«
Victoria musste unwillkürlich lächeln. Keine Rückfragen, kein Zögern. Das war so typisch für ihn. Sie dachte an ihr erstes Zusammentreffen mit dem Privatermittler Jarne de Zand, der sie mit seiner Unpünktlichkeit sofort gegen sich eingenommen hatte. Doch mit der Zeit hatte sie gelernt, dass sich hinter der lockeren Art ein Mann verbarg, der für seine Freunde notfalls alles stehen und liegen ließ. Wenn es darauf ankam, war auf ihn zu einhundert Prozent Verlass.
Und auch jetzt dauerte es nicht lang, bis der vertraute silbergraue Golf, der so gar nicht zu ihm zu passen schien, auf den Parkplatz rollte.
Wie ein Reh auf einer Lichtung lauschte sie in alle Richtungen, bevor sie zwischen den Bäumen hinaustrat.

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Schneeweiße Weihnacht, Tag 19

»Scheiße«, brüllte Stefan Bern hinter ihr her. »Kommt schnell, da war wirklich jemand.«
Das war offensichtlich an seine Kumpane gerichtet. Worte, die Victorias Schritt beflügelten. Nach dem, was sie belauscht hatte, war sie sich inzwischen sicher, dass die drei nicht nur mit Drogen zu tun hatten, sondern ebenso mit dem Tod von Manfred Wilhelm. Die würden auch mit ihr kurzen Prozess machen.
Sie versuchte erst gar nicht, ihr Auto zu erreichen. In der Zeit, die sie zum Einsteigen benötigen würde, hätten die Männer sie erreicht. Sie nahm stattdessen den nächstbesten Pfad zwischen die Bäume. Vermutlich kannte sich Stefan Bern hier besser aus, aber auch ihr war der Wald nicht fremd. In diesem hügeligen Bereich gab es ein dichtes Netz aus Singletrails und die waren nun ihre Chance, Haken schlagen zu können.
Tatsächlich dauerte es nicht lang, bis der Lichtkegel von Stefan Berns Taschenlampe in eine andere Richtung abbog.
Victoria verlegte sich ab jetzt aufs Schleichen. Die abendliche Stille des Waldes trug Geräusche weit, sie wollte sich nicht am Ende doch noch verraten.

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Schneeweiße Weihnacht, Tag 18

An Tag 18 sucht Victoria ihr Heil in der Flucht

Ihre einzige Chance war es, vor Stefan Bern am Tor zu sein. Den Gedanken, über den Zaun zu klettern, verwarf sie sofort. Der engmaschige Draht machte es unmöglich, sich daran festzuhalten, zudem zierte ihn oben eine Reihe Stacheln.
So schnell wie möglich arbeitete sie sich vorwärts. Die Lichtverschmutzung der nahen Stadt war heute ihr Freund und schemenhaft konnte sie die Bäume ausmachen. Die Männer verharrten einen Moment länger an dem Verschlag. Offenbar, um sich mit Taschenlampen auszustatten, schloss Victoria, als nun zeitgleich drei starke Lichtkegel durch den abendlichen Wald schnitten.
Da hatte sie das rettende Tor jedoch schon fast erreicht. Keine Sekunde zu früh, denn einer der Lichtkegel näherte sich rasch. Nun war sie ihrer Freundin Josephine dankbar, die sie immer wieder zum Laufen überredete. Stefan Bern mit seinem leichten Bauchansatz sah nicht so aus, als könnte er mit ihr mithalten, die anderen beiden Männer waren zu weit vom Tor entfernt.
Victoria sprintete los.

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Schneeweiße Weihnacht, Tag 16

Tag 16 enthüllt einiges

Drei Männer standen im Schein einer Campingleuchte in einem Verschlag. Derjenige, der ihr den Rücken zuwandte, könnte Stefan Bern sein. Die anderen beiden hatte Vicky noch nie gesehen und war sich nach dem Blick in ihre finsteren Mienen auch ziemlich sicher, dass sie sie nicht kennenlernen wollte. Instinktiv zog sich Victoria tiefer zwischen die Bäume zurück.
»Wie konntest du so dämlich sein, es dir klauen zu lassen?«, sagte einer der Männer in diesem Moment und die schneidende Stimme ließ Victoria frösteln.
»Ich habe den Fehler ja ausgemerzt«, antwortete der andere, den Victoria für Stefan Bern hielt. Der Stimme nach konnte er es sein.
»Ist ja nochmal gutgegangen«, schaltete sich der Dritte ein, »jetzt lasst uns weitermachen.«
Irgendetwas sagte Victoria, dass sie die drei besser nicht störte. Noch besser, sie bekämen gar nicht mit, dass sie dagewesen war.
Behutsam machte sie einen Schritt nach hinten und stieß gegen etwas zu ihren Füßen. Ein Baumstumpf, erkannte sie am frischen Holz- und Harzgeruch, als sie der Länge nach daneben auf den Boden schlug.
Sofort wurde es totenstill in dem Holzbau.
Eine Taschenlampe flammte auf und der Strahl zerschnitt die Dunkelheit neben Victoria. Halb auf Knien, halb liegend robbte sie hinter den nächstbesten Weihnachtsbaum. Es war leider nur eine Zwölf-Euro-Größe. Sie zog den Kopf zwischen die Schultern und lauschte mit angehaltenem Atem in die Nacht.

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Schneeweiße Weihnacht, Tag 15

An Tag 15 wird es langsam ungemütlich …

Wie holprig ein Waldweg in der Dunkelheit sein konnte, spürte Victoria bereits auf den ersten Metern. Sie stolperte mehrmals und jedes Mal fragte sie sich, was sie eigentlich hier tat. Sie konnte am Tag wiederkommen oder Stefan Bern anrufen – der Weihnachtsbaumverkauf hatte bestimmt eine Homepage mit Kontaktmöglichkeiten. Dennoch stapfte sie im Schein ihrer Handyleuchte bis zur Schonung – nur um dort festzustellen, dass die Hütte wie befürchtet in tiefster Finsternis lag.
Victoria wollte gerade umkehren, als ihr auffiel, dass das Tor geöffnet war. Es schien also noch jemand auf dem Gelände zu sein. Vielleicht arbeitete Stefan Bern ja irgendwo im hinteren Bereich?
Victoria schlüpfte auf das Grundstück.
Sie schaltete die Handylampe aus, um zu sehen, ob ein Lichtschein durch die Bäume schimmerte. Tatsächlich – dort hinten leuchtete etwas. Erleichtert, dass der Weg doch nicht umsonst gewesen war, nahm Victoria Kurs auf das Licht. Jetzt hörte sie auch Stimmen. Männerstimmen.

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Schneeweiße Weihnacht, Tag 14

14.

Es war fast dunkel, als Victoria den Kundenparkplatz einige hundert Meter vor der Weihnachtsbaumschonung erreichte. Wer seinen Weihnachtsbaum nicht so weit tragen konnte, bekam ihn gegen Aufpreis geliefert, hatte sie einer Informationstafel bei ihrem letzten Besuch entnommen.
Das milde Wetter der vergangenen Tage war umgeschlagen, und eine kalte, unangenehme Feuchtigkeit kroch sofort in die Kleidung. Victoria war froh, dass sie einen kurzen Abstecher nach Hause gemacht hatte und nun mit festem Schuhwerk, einer Jeans und einer Outdoorjacke passend für den Wald gekleidet war. An eine Taschenlampe hatte sie natürlich nicht gedacht, ebenso wenig daran, dass ein Weihnachtsbaumverkauf spätestens mit Anbruch der Dunkelheit schließen würde. Nachdem sie ihre Dummheit ausreichend lang beschimpft hatte, beschloss Victoria, dennoch zur Schonung zu laufen. Jetzt war sie schon einmal hier und vielleicht hatte sie ja Glück und erwischte Stefan Bern noch.

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Schneeweiße Weihnacht, Tag 13

13.

Victoria starrte unschlüssig auf das Geld vor sich. Dreißig Euro. Wilhelm hatte sie ihr nach dem Beratungsgespräch dagelassen. Sie sollte damit den Baum bei Bern bezahlen.
Ein staatsanwaltschaftliches Aktenzeichen gab es zu dem Weihnachtsbaum-Fall noch nicht, hatte Tom ihr verraten. Das konnte bedeuten, dass die Akte einfach noch nicht von der Polizei zur Staatsanwaltschaft gewandert war, oder man sie dort noch nicht eingetragen hatte. Genauso wahrscheinlich war es jedoch, dass Bern ihrem Mandanten so kurz vor Weihnachten doch noch eine Chance auf Wiedergutmachung einräumen wollte. Victoria malte sich aus, wie er auf Wilhelm wartete und nun das zweite Mal der Illusion vom Guten im Menschen beraubt wurde. So viel Großmut und Verständnis durfte nicht enttäuscht werden. Sie würde nach Feierabend in den Wald fahren, um den Baum zu bezahlen und Bern bei dieser Gelegenheit zu erklären, warum der Baumdieb nicht mehr selbst vorbeikommen konnte.

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Schneeweiße Weihnacht, Tag 12

12.
»Du kennst ihn? Warum wundert mich das nicht?« Sie hörte eine Art von resignierter Belustigung aus Toms Worten. Er hatte sich vermutlich damit abgefunden, dass sie in letzter Zeit von einem Kriminalfall in den nächsten taumelte.
»Der Mann auf dem Foto in der Zeitung ist ein Mandant von mir. Er müsste auch bei euch im System sein. Manfred Wilhelm heißt er.«
»Wilhelm«, murmelte Tom und Victoria hörte das Klappern einer Tastatur. »Ja, den haben wir tatsächlich im System. Ein Ritt durchs StGB auf Kleinkriminellenniveau.«
»Ist der Strafantrag wegen des gestohlenen Weihnachtsbaums schon da? Von Stefan Bern?«
»Bitte? Dein Mandant hat einen Weihnachtsbaum gestohlen?«, tönte es amüsiert aus dem Hörer.
»Direkt aus der Schonung.« Victoria lachte. »Er hat eine Motorsäge benutzt und ist prompt geschnappt worden. Jetzt hofft er auf Berns Gnade. Geringwertige Sache.« Sie hielt kurz inne und zügelte ihre Belustigung, weil ihr bewusst wurde, dass sie über einen Toten sprach. Auch wenn er ihr nicht sonderlich sympathisch gewesen war.
»Kein Antrag, kein Verfahren, verstehe. Na, das Verfahren hat sich jetzt wohl so oder so erledigt.«

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Schneeweiße Weihnacht, Tag 11

11.
Der Staatsanwalt nahm nach dem dritten Läuten ab. »Hertzmeier«
»Hallo Tom, Victoria hier.«
»Vicky! Das ist aber eine Überraschung.« Er klang erfreut und Victoria fiel ein Stein vom Herzen. Sie machte sich in letzter Zeit ebenso rar wie er und sie konnte den Status ihrer Beziehung nie so recht einordnen. »Was verschafft mir die Ehre?«
»Die Zeitung.« Victoria lachte leise. »Genauer gesagt der Zeitungsartikel von heute über den Leichenfund. Da stand, die Polizei bittet um Hinweise zum Opfer. Ist es dein Fall?«
»Da es derzeit keine Anhaltspunkte für die Zuständigkeit irgendeiner anderen Staatsanwaltschaft gibt, wird es wohl meiner sein.« Er seufzte.
Victoria dachte an die Aktenberge in Toms Büro und verstand sein Seufzen. Mal waren die Aktenstapel größer, mal kleiner, aber Victoria kannte eigentlich keinen Staatsanwalt, der nicht mit wachsender Verzweiflung oder Resignation auf die Vielzahl der Fälle blickte. Und nun war wieder einer dazugekommen.
»Vielleicht kann ich dir zumindest die Suche nach der Identität des Opfers abnehmen«, sagte Victoria.

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